Butoh - Tanzen im Zwischenraum


„Ellen, du hast doch sicher auch Lust da mitzumachen?“
- „Ehhhm wo?
- „Beim Butoh-Workshop am Sonntag“
- „Ehm, ja klar...“

Angemeldet war ich also, die Frage war: Für was? Da half nur noch fieberhaftes Googeln: „Butoh“, „Butoh Tanz“ „Was ist Butoh?“. Erste Hinweise gab es mit Einträgen wie „Tanz der Finsternis“, „radikal absurd und grotesk“, „kann Erschrecken und Abwehr beim Zuschauer hervorrufen“. Worauf hatte ich mich jetzt wieder eingelassen? 
Nachdem ich meine anfängliche Butoh-Panik erst einmal hinunter geschluckt hatte, fand ich folgendes heraus:

Der japanische Ausdruckstanz Butoh wurde in den 1950er Jahren im Zuge einer Anti-Amerika- Bewegung nach dem zweiten Weltkrieg von Tatsumi Hijikata und Kazuo Ohno, als Widerstand gegen die moderne Gesellschaft und den bloßen Import westlicher Künste begründet. Es geht dabei nicht um die Ästhetik einer durchchoreografierten Performance, sondern um das Tanzen der Seele und die Befreiung vom eigenen, bewussten und von gesellschaftliche Normen geprägten Selbst. Das mag absurd daherkommen, kann grotesk wirken, aber gleichzeitig auch zart und verletzlich. Butoh soll generell für den Verstand schwer greifbar und unberechenbar sein und ist dementsprechend schwer in Worte zu fassen. Ich wage hier trotzdem einen Versuch: 

Kazuo Ohno, Mitbegründer des Butoh, beim Tanz.
(Quelle: https://theredlist.com/wiki-2-24-525-970-975-
view-1980s-6-profile-kazuo-ohno.html)
Als an einem Sonntag im Dezember gegen 11 Uhr alle acht Teilnehmerinnen eingetrudelt sind, bugsiert uns Workshop-Leiter Holger Endres auf die Bühne im EinTanzHaus. Zuerst gehen wir einfach nur im Raum umher, jede*r im eigenen Tempo. Dann schneller werden, laufen, langsamer werden, langsam, langsam, noch langsamer, gaaaaaanz laaaaangsaaaaaam. Es ist nicht einfach den eigenen Schritt in Zeitlupe nachzumachen. Plötzlich ist jede Verschiebung ein Balanceakt und jeder Zentimeter, den ein Fuß nach vorne wandert, fühlt sich zu bewusst an, um wirklich von mir selbst zu kommen. Dann werden wir zur Spinne, die seit tausend Jahren in einer dunklen Höhle wartet und durch die plötzliche Möglichkeit einer Mahlzeit ganz aufgeregt zum Höhleneingang trippelt und um sich schnappt. Wir tragen imaginäre Objekte durch ein Zimmer voll imaginärer Regale, erforschen mit geschlossenen Augen den Raum um uns herum und werden zur Blume, die zunächst ein kleiner Samen ist, wächst, erblüht, letztendlich verwelkt und wieder im Boden verschwindet. Nach jeder Übung treffen wir uns in einem Kreis und reden kurz darüber, was wir dabei empfunden haben und wie die Bewegung auf uns gewirkt hat. Ich bin erstaunt, wie unterschiedlich die Effekte sein können und habe meinen ersten Aha-Moment nach der Raumerforschung. Während ich dabei Linien folge, die vor meinem inneren Auge wie von selbst entstehen, berichtet eine andere Teilnehmerin von Bahnen aus Seide in den verschiedensten Farben, durch die sie während der Übung tauchte. Butoh lässt sich nicht einfangen und festsetzen, weil Butoh für jede*n anders ist, weil eben jede*r anders ist. Das bewusste Selbst wird fallen gelassen und man vertraut dem Tieferliegenden, der Seele, dem oft verborgenen Selbst. Wie auch immer man es nennen möchte. Die Übungen arbeiten mit hoher Konzentration und dem Fokus auf das Innere. Dabei blende ich meine Umgebung automatisch aus. Dank Holgers ruhiger und zwangloser Art uns an die Aufgaben heranzuführen, verspüre ich auch keinerlei Hemmungendie Bewegungen zu erfühlen und ihnen zu folgen. Was dabei herauskommt ist nicht nur für das eigene Erleben spannend, auch das Zuschauen ist faszinierend: Der Blick nach vorne ins Leere lässt die Tänzerinnen auf der einen Seite sehr konzentriert wirken, auf der anderen seltsam fremdgesteuert. Mein zweiter Aha-Moment: Butoh ist ein Tanz des Dazwischen. Zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, zwischen Meditation und dem sich ins Unbekannte fallen lassen.

Ich muss zugeben: Als ich vor dem Workshop über Butoh recherchiert habe, klang das für mich eher nach spiritueller Freakshow, als nach etwas, aus dem ich einen Mehrwert ziehen könnte. Doch als ich nachmittags das EinTanzHaus verlasse, fühle ich mich sowohl leichter, als auch geerdeter. Ich habe gerade eine Reise in mein Inneres unternommen und dabei nicht nur Erstaunliches festgestellt, sondern auch eine Menge Spaß gehabt. Dafür ein großes Danke an den tollen Holger Endres und eine unbedingte Empfehlung an alle, die noch nicht die Butoh-Euphorie gepackt hat. Traut euch und probiert es aus. Selbst, wenn ihr andere Erfahrungen machen werdet, als ich hier beschrieben habe, wird es doch sicher etwas sein, womit ihr nicht gerechnet hattet.

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